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Alfredo Braun: "Strasshofer Mana – Jeden Sonntag kam eine Semmel über den Lagerzaun"

Es war wie Weihnachten. Aber es war nicht Weihnacht. Es war ... Es war ... unbeschreiblich. Ein Geschenk des Himmels, ein Geschenk von oben. Es muss ein Engel gewesen sein. Ein Engel, der mir im Strasshofer Arbeitslager 1944 das Leben rettete.

1944, da war ich gerade elf. In Budapest wurde ich in einen Viehwaggon verfrachtet, der von außen verriegelt wurde. Menschen tun das immer wieder – auch 70 Jahre danach. Unser Transport hatte ein unbestimmtes, unbekanntes Ziel. Nach drei Tagen kamen wir in Strasshof an. Ich hatte Glück, ich konnte hierbleiben. Es war nämlich so, dass der Zug mit vielen anderen weiterfuhr. Frauen im Alter zwischen 15 und 35 Jahren mussten den unbeschreiblich übel riechenden Waggon verlassen. Eine in Erwartung stehende Frau blieb im Viehwaggon. Der SS-Soldat, der zur Selektion abkommandiert war, forderte sie auf, herauszukommen. "Aber ich bin schon über 35, ich muss doch weiterfahren", entgegnete sie. "Kommen sie, schauen sie, dass sie hierbleiben", meinte er. Sie versuchte es, wurde aber abgewiesen. Wieder zurück beim Viehwaggon sah sie der SS-Soldat. Mit den Worten "Tun sie alles, dass sie da hineinkommen. Sie müssen einen Weg finden", wandte er sich erneut an sie. Sie fand einen Weg. Sie schaffte es.

Kurz vor Mitternacht heulten die Sirenen. Eine Abordnung betrat die Baracke. Ich habe noch nie so eine Stimme gehört. Ein Organ – wie ein Orkan brüllte der Kommandant: "Hier ist eine Nummer zu viel da. Wer ist das?" Zittrig erhob sich die schwangere Frau. Sie konnte, sie musste bleiben. Denn der Zug war bereits Richtung Auschwitz abgefahren.

Später gebar sie einen Buben, er war das einzige Baby im Lager. Er hat überlebt. Und sein Sohn leitet heute die Arbeitsgruppe des Erinnerns.

Aber ich wollte eigentlich von Weihnachten erzählen. Es war nicht Weihnacht. Es war ein Sonntag, ich stand hungrig an der Lagermauer, sah den Wolken nach, die es vielleicht bis Budapest schaffen. Ob mir das auch noch jäh gelingen wird? Da, ich traute meinen Augen nicht, ein kleines Paket schwebte da vor meinen Augen. Es war an einer Schnur befestigt und senkte sich zu mir herab. Was mag das sein? Hastig schnürte ich das Päckchen auf, wickelte das Papier auf – eine Semmel kam zum Vorschein. Keine harte, sie war noch so weich, so frisch. Vor lauter Freude merkte ich gar nicht, dass sie durchgeschnitten war. Als ich die obere Hälfte vorsichtig hob, sah ich, dass eine Wurstscheibe darin war. Das war keine Salami, die war noch besser, obwohl wir in Ungarn doch die beste Salami haben. Von der anderen Seite flüsterte eine Frauenstimme: "Wenn du jeden Sonntag um diese Zeit kommst, schicke ich dir immer ein solches Packerl."

So muss es meinen Vorfahren mit Mose ergangen sein. Das Manna, das damals in der Wüste mein Volk rettete. Das Manna von Strasshof hat mein Überleben ermöglicht. Durch einen Engel, der hier gelebt hat. Heute bin ich 82 Jahre alt. 70 Jahre Kriegsende wird gefeiert, unser Lager wurde befreit. Ein Lager, in dem ich das wertvollste Geschenk meines Lebens erhielt: eine Semmel.
Heute, nach 70 Jahren, bin ich, Alfredo Braun, nochmals hierhergekommen. Ich hätte ihn so gerne kennen gelernt, den Engel von Strasshof, der mir jeden Sonntag ein Päckchen schickte.
Es war wie Weihnachten. Aber es war nicht Weihnacht. In eurem Glauben ist es das Fest der Liebe. Der Engel hat es bezeugt.

Verfasst von GOMADO (Gottfried Doschek). Diese Geschichte basiert auf einem Gespräch, dass Gottfried Doschek mit Alfredo Braun (Foto) beim Gedenkakt 2015 in Strasshof geführt hat.