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Käthe Leichter: An meine Brüder

Bruder, schreckst auch du des Nachts empor aus wirren Träumen,
sind es Bilder, tags bewußt, die nachts den Schlaf umsäumen?
Warst du heute Nacht bei Weib und Kind?
Ich war bei meinen Kindern. Deckte beide zu und sprach:
"Mutter kommt bald, brav sein und nicht weinen!"
Die Lampe warf ihr Licht auf Buch und Sofaecke,
wir saßen still, mein Mann und ich, daß nichts die Kinder wecke.
Da schreckt’ ich auf. Fahl schien der Mond auf eiserne Gestelle.
Und da lieg ich unter vielen und doch so einsam und so kalt.
Ich in Ravensbrück, du in Sachsenhausen, in Dachau oder in Buchenwald.

Bruder, stehst du des Morgens frierend beim Appell?
Wir stehen stumm in Zehnerreihen, im Osten wird es langsam hell.
Steil ragt der Wald, wir atmen Luft in vollen Zügen,
Kräfte zu sammeln für den schweren Tag,
denn keiner von uns darf, will je unterliegen.
Da flammt’s im Osten seltsam auf, als stünde die Welt in Flammen.
Wir nehmen es als gutes Zeichen. Bricht wirklich bald alles zusammen?
Und dann stehen wir stumm, nur die Fäuste geballt,
ich in Ravensbrück, du in Sachsenhausen, in Dachau oder in Buchenwald.

Bruder, stehst du auch des Tags mit der Schaufel in der Hand,
wird es nicht Mittag? Nimmt denn kein End’ der Sand?
Oder schleppst auch du wie ich große schwere Steine?
Schmerzt auch dich der Rücken, brennen die Beine?
Sieh, du bist doch ein Mann, gewohnt an’s harte Schlagen,
ich bin schwächer, und mein Leib hat schon Kinder getragen.
Wie denkst du über unsrer Kinder Leben?
Werden Schläge, Strafblock stets als Drohung schweben?
Und dann geht es weiter doch, im Herzen Hoffnung und Halt:
Ich in Ravensbrück, du in Sachsenhausen, in Dachau oder in Buchenwald.

Oh, Bruder, einmal kommt der Morgen, wo uns kein Appell mehr hält!
Wo weit offen die Tore, und vor uns liegt die große, die freie Welt.
Und dann werden wir KZler auf der breiten Straße wandern.
Doch auf uns warten noch die andern.
Und wer uns sieht, sieht die Furchen, die das Leid uns in das Antlitz geschrieben,
sieht Spuren von Körper- und Seelenqualen, die uns ein bleibendes Mal geblieben.
Und wer uns sieht, sieht den Zorn, der hell in unseren Augen blitzt,
sieht den jauchzenden Freiheitsjubel, der ganz unsere Herzen besitzt.
Und dann reihen wir uns ein, in die letzte große Kolonne,
dann heißt es zum letzten Male: Vorwärts marsch!
Und jetzt führt der Weg zum Licht und zur Sonne.
Oh, Bruder, siehst du gleich mir diesen Tag, du mußt doch denken: Er kommt bald!
Und dann ziehen wir aus Ravensbrück, aus Sachsenhausen, aus Dachau und aus Buchenwald.

Die große Sozialistin Käthe Leichter war nach der Annexion Österreichs durch Hitler-Deutschland im März 1938 im Land geblieben, um im Untergrund weiter politisch tätig zu sein. Durch Verrat eines Spitzels am 30. Mai 1938 von der Gestapo festgenommen, wurde sie Anfang 1940 ins Frauen-KZ Ravensbrück deportiert, wo sie zahlreiche Gedichte verfasste, die sie den Mitgefangenen vortrug, aus Sicherheitsgründen aber nicht aufschrieb. Im März 1942 wurde sie, gemeinsam mit anderen jüdischen Häftlingen, in die Euthanasie-Anstalt Bernburg an der Saale gebracht und ermordet.

Die Kinder, von denen sie spricht (Zeile 4), sind ihre Söhne Heinz (geb. 1924, gest. 2010) und Franz (geb. 1930). Ihr Mann (Zeile 7) ist Otto Leichter, dem noch im März 1938 mit einem gefälschten Pass die Flucht in die Schweiz und von dort weiter nach Brüssel gelungen war. Heinz und Franz konnten mit Hilfe einer befreundeten Familie und der ehemaligen Hausgehilfin ins rettende Ausland gebracht werden. Allen dreien gelang Ende 1940 die Flucht aus dem von der Deutschen Wehrmacht eroberten Frankreich in den USA.

Dass es die Ravensbrück-Überlebende Viktoria Fila war, die dieses Gedicht – als einzigen der in Ravensbrück entstandenen Käthe Leichters – der Nachwelt überlieferte, wissen wir von Rosa Jochmann. In den von Maria Sporrer und Herbert Steiner aufgezeichneten Gesprächen (1983 als Buch erschienen) berichtete sie:

"Wir duften mit Juden weder sprechen noch zusammenkommen, haben es aber trotzdem getan. Käthe Leichter veranstaltete im Block 11, dem jüdischen Block, am Sonntag literarische Nachmittage. Unter größten Vorsichtsmaßnahmen bescherte uns Käthe unvergeßliche Stunden mit alten Freiheitsgedichten und Liedern, die uns der Hölle entrückten. Das Gedicht 'An meine Brüder', das von der jungen Kameradin Viktoria Fila auswendig gelernt wurde und so erhalten geblieben ist, stammt von Käthe Leichter."

Der Zeitpunkt, zu dem Käthe Leichter (1895-1942) das Gedicht verfasste, ist nicht überliefert. Der Optimismus in der Zeile "Da flammt’s im Osten seltsam auf, als stünde die Welt in Flammen" könnte aber ein Indiz für Ende 1941 sein, als die Deutsche Wehrmacht die Schlacht vor Moskau verlor.