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Vernichtete Vielfalt - Jehovas Zeugen - immer noch eine vergessene Opfergruppe

Aufgrund der Pandemiemüdigkeit entgehen uns viele Ereignisse: Kinder werden mitten in der Nacht in für sie fremde Länder abgeschoben. Asylsuchende müssen Monate in der Schubhaft um ihre Zukunft bangen. Flüchtlingslager in Griechenland stehen unter Wasser. Menschen in unserer Nachbarschaft vereinsamen aufgrund der vielen Einschränkungen und Verbote. Es ist höchste Zeit hinzuschauen wo Hilfe benötigt wird, zu überlegen wie man helfen kann um dann Schritte zu machen und aktiv zu werden. Zivilcouragiertes Handeln ist nur eine Entscheidung von uns entfernt. Was passieren kann, wenn wir nicht handeln zeigt uns die Geschichte.

Alljährlich erinnern wir uns an die Opfer des Nationalsozialismus. Wir wollen doch etwas aus der Vergangenheit lernen und es zukünftig besser machen. Jedoch die Gegenwart zeigt uns, wie weit wir von einem friedlichen Miteinander entfernt sind. Das sehen wir jetzt vor allem in Russland. Seit 2017 dürfen Jehovas Zeugen dort ihren Glauben nicht mehr ausüben. Ihre Anbetungsstätten wurden gewaltsam beschlagnahmt, es kam zu Verhaftungen, Übergriffen, Folterungen und Geldstrafen. "Es fangt genauso an" sang schon die Musikgruppe STS, darüber später mehr.

Im Nationalsozialismus waren alle Juden Opfer; aber nicht alle Opfer waren Juden. Zu einer immer noch vergessenen Opfergruppe zählen Jehovas Zeugen (Bibelforscher). Sie erhielten im Konzentrationslager als einzige religiöse Gemeinschaft ein eigenes Abzeichen, den Lila Winkel. Der folgende Bericht zeigt am Beispiel einer kleinen Gemeinde in Techelsberg am Wörthersee in Kärnten wie erbarmungslos Männer, Frauen und Kinder verfolgt wurden; aber auch wie sie trotz der Umstände Zivilcourage zeigten.

Zivilcourage in Techelsberg am Wörthersee während der NS-Zeit

"Man muss etwas machen, um keine Schuld zu haben. Dazu brauchen wir einen harten Geist und ein weiches Herz. Wir haben alle unsere Maßstäbe in uns selbst, nur suchen wir sie zu wenig." (Sophie Scholl)

Jehovas Zeugen gehören schon seit über 100 Jahren zum Landschaftsbild Österreichs. Die Ingeborg-Bachmann Preisträgerin Maja Haderlap schreibt in ihrem Buch Engel des Vergessens über ihre Großmutter: "Sie bittet auch die Zeugen Jehovas ins Haus, wenn sie zu zweit oder zu dritt vor der Haustür stehen und wünschen, uns die Erschaffung der Welt erklären zu dürfen. Sie deckt den Tisch, während uns die Bibelforscher das Paradies beschreiben, die nie versiegenden Quellen und Flüsse, den Reichtum, die Fruchtbarkeit der Felder und Auen Gottes, sein strenges Wachen über den schwachen und schuldigen Menschen, die nach dem Sündenfall viel zu früh aus dem Paradies vertrieben worden sind" (Haderlap 2011, 36).

Die erste Gemeinde der Zeugen Jehovas in Kärnten entstand in den 30er Jahren in Techelsberg am Wörthersee. 31 Personen besuchten damals die christlichen Zusammenkünfte in einem privaten Haus bei der Familie Wohlfahrt. Während des Nationalsozialismus versammelten sie sich an geheimen Orten, da ihre Tätigkeit verboten war. Das NS-Regime machte vor den Bibelforschern, wie Jehovas Zeugen damals genannt wurden, keinen Halt. Ob Männer, Frauen oder Kinder, alle waren von der menschenverachtenden Verfolgung betroffen und sollten ausgerottet werden. Fünfzehn Jehovas Zeugen aus der Gemeinde Techelsberg wurden während des Nationalsozialismus ermordet: Sechs Männer wurden wegen Wehrdienstverweigerung hingerichtet. Ein Mann wurde in den Gaskammern von Auschwitz ermordet. Ein Jugendlicher wurde beim Ausheben eines Schützengrabens erschossen. Eine Frau starb an den Folgen der Folter im Klagenfurter Gestapo-Gefängnis. Sechs Männer starben an den unmenschlichen Bedingungen in den Konzentrationslagern oder wurden dort ermordet.

Heute erinnern wir uns an diese mutigen Menschen aus der Gemeinde Techelsberg. Sie sollen uns zu zivilcouragiertem Handeln inspirieren. Ohne Gewalt setzten Jehovas Zeugen ein klares Statement gegen den Nationalsozialismus und seine menschenverachtende Vorgehensweise. Sie beteiligten sich nicht am Krieg – weder an der Front noch in der Rüstungsfabrik. Sie verweigerten den "Hitler-Gruß" und traten nicht dem Bund Deutscher Mädel oder der Hitler Jugend bei. Trotz Missionierungsverbot verbreiteten sie mitten im Krieg eine friedenstiftende Botschaft aus der Heiligen Schrift.

Die erste wissenschaftliche Abhandlung über einen Wehrdienstverweigerer aus der Gemeinde Techelsberg verfasste Vinzenz Jobst im Jahr 1997. In seinem Buch: Anton Uran: verfolgt - vergessen - hingerichtet beschreibt er die Geschichte eines jungen Mannes, der sich aus Gewissensgründen weigerte in den Krieg zu gehen. Im Jahr 2000 folgte das Buch von Lieselotte Wölbitsch: In tiefer Nacht beginnt der Morgen. Franz Wohlfahrt überlebt den NS-Terror. In ihrem Buch beschreibt sie die Erlebnisse von Franz Wohlfahrt, der wegen Wehrdienstverweigerung Zwangsarbeit im Strafgefangenenlager Rollwald leisten musste. 2011 wurden im Buch: Für alles bin ich stark durch den, der mir Kraft verleiht. Widerstand und Verfolgung der Zeugen Jehovas in der Zeit des Nationalsozialismus in Kärnten, alle Kurzbiographien von Kärntner Jehovas Zeugen aus jener Zeit veröffentlicht. Diese berührenden Lebensberichte sind auch online abrufbar. Ein aufschlussreicher Berichtet wurde vom Vorstand der Stiftung Hamburger Gedenkstätten Dr. Detlef Garbe verfasst. Sein Buch trägt den Namen: Zwischen Widerstand und Martyrium. Die Zeugen Jehovas im "Dritten Reich". Das derzeit aktuellste Werk über die Opfergruppe publizierte Prof. Besier, sein Buch lautet: Jehovas Zeugen in Europa - Geschichte und Gegenwart Band 3.

Die Verfolgung Jehovas Zeugen hat jedoch mit 1945 nicht aufgehört. Derzeit sind mehr als 157 Jehovas Zeugen (vgl. Jehovas Zeugen 2021/1) aufgrund ihrer Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen und ihrer Religionsausübung in folgenden Ländern inhaftiert: Eritrea (24), Krim (6), Singapur (12), Südkorea (4), Tadschikistan (2), Turkmenistan (9) und in weiteren Ländern. Der aktuellste Krisenherd befindet sich jedoch in Russland, derzeit sind dort 49 Jehovas Zeugen in Haft und 27 stehen unter Hausarrest (Stand: 15.2.2021 siehe jw-russia.org).

Am 20.4.2017 wurde vom Obersten Gericht der Russischen Föderation dem Antrag des Justizministeriums stattgegeben, die Zentrale von Jehovas Zeugen in Russland und 395 örtliche Rechtskörperschaften aufzulösen. Über 175.000 Jehovas Zeugen sind von dem Verbot der freien Glaubensausübung betroffen.

Noch vor dem Urteil wurden ihre Glaubensbrüder aktiv. Am 21.3.2017 startete eine weltweite Briefaktion. Millionen von Jehovas Zeugen schrieben Briefe an verschiedene Amtsträger mit der Bitte um ein Eingreifen, damit sich Jehovas Zeugen in Russland wieder friedlich zu ihren christlichen Zusammenkünften treffen können (vgl. Jehovas Zeugen 2017/3). Die erste weltweite Protest-Briefaktion von Jehovas Zeugen fand am 7.10.1934 statt und richtete sich an Hitler. In den Briefen forderten die Bibelforscher Hitler auf, die Verfolgung von Jehovas Zeugen zu stoppen (vgl. Malle 2011, 173). Fünf Jahre später tobte in Europa der Zweite Weltkrieg. In dieser Zeit waren über 6.000 Jehovas Zeugen in Konzentrationslagern oder in Gefängnissen, etwa 2.000 (davon 154 aus Österreich) verloren ihr Leben und über 250 (davon 50 aus Österreich) wurden hingerichtet (Besier, 2018, 416).

Elie Wiesel, Überlebender des Konzentrationslagers Auschwitz, sagte: "Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit. Das Gegenteil von Hoffnung ist nicht Verzweiflung, es ist Gleichgültigkeit. Gleichgültigkeit ist nicht der Anfang eines Prozesses, es ist das Ende eines Prozesses" (Wiesel, 1986, 157). Die Gleichgültigkeit ist unser größter Feind! Es war die Gleichgültigkeit, die es zuließ, dass Millionen von Menschen aus der Nachbarschaft einfach "abgeholt" worden sind. Es war die Gleichgültigkeit, die nicht nachfragte was mit den Menschen geschieht. Solange uns der Nächste egal ist, werden Massaker wieder passieren. Und sie passieren längst! Während des Nationalsozialsozialismus versuchten die Menschen aus Europa zu fliehen. Jedoch niemand wollte die Geflüchteten. Heute ist es umgekehrt; viele Menschen suchen Schutz in Europa und wieder sind die Geflüchteten nicht willkommen. Angesichts der derzeitigen Kriegs- und Krisenschauplätze (Afghanistan, Äthiopien, Sahara, Venezuela, Libyen, Somalia, Syrien, Nigeria ...) mit Millionen Menschen auf der Flucht fragt man sich: Haben wir etwas aus der Vergangenheit gelernt? Laut den Vereinten Nationen UNHCR sind über 79,5 Millionen Menschen auf der Flucht wegen Verfolgung, Krieg, Armut und dem Klimawandel. Davon sind 40 Prozent Kinder (Stand 2019).

Die Verfolgung von Jehovas Zeugen in Russland wird von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Jedoch gerade wenn sich Regime oder Menschen gegen kleine Minderheiten stellen, dann sollte man besonders achtsam sein. Bereist 1933 zählten Jehovas Zeugen zu den ersten Inhaftierten im KZ Dachau. Heute wissen wir welche weiteren Maßnahmen daraufhin folgten. Der Schriftsteller Michael Köhlmeier brachte es auf den Punkt: "Zum großen Bösen kamen die Menschen nie in einem Schritt, sondern in vielen kleinen."

Im Jahr 1992 hat die österreichische Musikgruppe STS durch ihr Lied "Es fangt genauso an" auf die Gefahr der kleinen Schritte zum Bösen hingewiesen. Zu dem Zeitpunkt flüchteten Menschen aus dem damaligen Kriegsgebiet Jugoslawien nach Österreich und Deutschland. Anstatt Schutz und Sicherheit zu finden, wurden die Menschen auf der Flucht mit Ablehnung und Übergriffen konfrontiert. Flüchtlingsheime in Deutschland wurden gestürmt und in Brand gesetzt. Auch in Österreich gab es in den Jahren 2015 und 2016 heftige Angriffe auf Flüchtlingsheime. Frauen, Kinder und Männer, die ihre Heimat (Syrien, Afghanistan, ...) aufgrund von Krieg und Verfolgung verlassen mussten, wurden erneut zu Opfern. Achtsamkeit ist notwendig, wenn Minderheiten, sei es aufgrund ihrer Religion, ihrer Herkunft, ihrer Kultur ausgegrenzt oder verfolgt werden. Hinschauen statt wegschauen, helfen statt ignorieren. Wir alle können Mentoren und Heldinnen werden, selbst wenn ich nur einer einzigen Person helfen kann. Durch unsere Hilfsbereitschaft bleiben wir im Gedächtnis der Menschen und tragen so zu einer besseren Zukunft bei.

Der Chemiker und Schriftsteller Primo Levi hat Auschwitz überlebt und sagte: "Wer keine Erinnerung hat, hat keine Zukunft". Deshalb dürfen wir die Vergangenheit nicht vergessen. Sie ist eine Warnung und soll uns helfen daraus zu lernen und es besser zu machen. In Techelsberg am Wörthersee ist man dieser Aufforderung am 19.5.2017 nachgekommen. Es wurde eine neue Gedenktafel zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus der Bestimmung übergeben (vgl. Jehovas Zeugen 2017/8). Sie erinnert an mutige Zeugen Jehovas: Männer, Frauen und Kinder. Ihre Berichte zeigen uns, dass es auch einfachen Menschen möglich ist, trotz heftigen Widerstands, den christlichen Werten treu zu bleiben und anderen Menschen egal welcher Herkunft mit Würde und Respekt zu begegnen. Ein Name auf dieser Tafel lautet Anton Uran. Das ist seine Geschichte:

Anton Uran (geb. 22.2.1920) aus St. Martin/Techelsberg war der Sohn eines Holzbehauers. Seine Eltern betrieben ein Gasthaus, wo es immer wieder kulturelle Veranstaltungen gab. Anton arbeitete bereits als Kind eifrig in der Landwirtschaft. Von seinem Vater erlernte er das Behauen des Holzes und die Arbeit als Holzarbeiter. Bei der Waldarbeit begegnete er zwei Zeugen Jehovas: Johann Stossier und Matthäus Pibal. Die Männer vermittelten Anton die Glaubensgrundsätze der Heiligen Schrift. Zusätzlich besuchte Anton kleinere Zusammenkünfte zum Bibelstudium bei der Familie Wohlfahrt. Dort wurden ihm auch biblische Vorträge auf einem Grammophon vorgespielt. Das neugewonnene Wissen veranlasste ihn dazu aus der katholischen Kirche auszutreten. Er ließ sich im September 1938 im Forstsee als Zeuge Jehovas taufen.

Anton verweigerte aus Gewissensgründen beim Reichsarbeitsdienst die Vereidigung. 1940 wurde er wegen Wehrdienstverweigerung verhaftet und musste in verschiedenen Lagern Zwangsarbeit leisten. Die Eltern von Anton Uran zeigten daraufhin die Bibelforscher Johann Stossier und Matthäus Pibal bei der Gestapo an. Daraufhin wurden beide in das KZ Sachsenhausen deportiert. Johann Stossier überlebte diese Zeit nicht, Matthäus Pibal kam 1945 schwer beeinträchtigt zurück. Anton Uran schrieb während seiner Inhaftierung viele Briefe nach Hause und versuchte dadurch seine Familie zu trösten. Das Reichskriegsgericht in Berlin verurteilte Anton am 22.1.1943 wegen Zersetzung der Wehrmacht gemäß § 5 KSSVO zum Tode. Anton wurde am 23.2.1943 in Berlin-Bandenburg hingerichtet. Er war 23 Jahr alt. Seine Rehabilitierung am 3.6.1997 war die erste in der österreichischen Geschichte (vgl. Jobst 1997, Malle 2011, 135f.).

Das Beispiel der Familie Wohlfahrt (vulgo Zanker) zeigt wie eine ganze Familie Vater, Mutter und Kinder aufgrund ihres Glaubens Opfer des Nationalsozialismus wurden:

Franz Wohlfahrt (geb. 26.3.1890) aus Köstenberg/Velden war der Bruder von Gregor Wohlfahrt. Er war ein Veteran des Ersten Weltkrieges, wo er ein Auge verlor und dadurch nicht mehr wehrtauglich war. Durch biblische Gespräche mit seinem Bruder Gregor wurden Franz und seine Frau Anna ebenfalls Jehovas Zeugen. Gregor kam ins Gefängnis und wurde am 7.12.1939 in Berlin Plötzensee enthauptet. Franz und sein Sohn Anton halfen daraufhin der Schwägerin Barbara Wohlfahrt in der Landwirtschaft in St. Martin. Eine Nachbarin beobachtete die Hilfe am Bauernhof und machte eine Falschmeldung bei der Gestapo. Daraufhin hatte Barbara des Öfteren Hausdurchsuchungen und weitere Schwierigkeiten. Franz wurde am 2.6.1943 in das KZ Flossenbürg (Haftnummer: 2362) deportiert und dann in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau (Haftnummer: 166680) überstellt. Der letzte Eintrag über ihn am 21.2.1944 lautete: "Magenleiden". Todesursache: vermutlich durch Gas (vgl. Wontor-Cichy 2006, 86).

Seine Gattin Anna (geb. 25.7.1899) kam im Februar 1944 in das Gestapogefängnis nach Klagenfurt. Dort wurde sie heftig geschlagen. Anna hatte einen inoperablen Kropf, aufgrund der Folter von der Gestapo lebte sie nach ihrer Rückkehr nur noch wenige Tage. Der Sohn Anton (geb. 17.1.1925) kam am selben Tag wie sein Vater in das KZ Flossenbürg (Haftnummer: 2401) und verharrte dort bis Kriegsende. Der Sohn Emil (geb. 22.5.1928) kam am 1.12.1944 in das Jugend-KZ Moringen und verblieb dort bis Kriegsende. Vier Jahre nach seiner Befreiung starb er an einer Zahninfektion. Der Sohn Franz (geb. 9.2.1927) wurde von der Jugendkammer des Landesgerichtes Klagenfurt am 22.9.1944 verurteilt. Das Urteil lautete: "Franz Wohlfahrt hat 1.) der wehrfeindlichen Verbindung der Bibelforscher angehört; 2.) es seit Feber 1944 unternommen, sich durch die Weigerung, die Uniform anzuziehen, und den Eid auf den Führer zu leisten, sich der Erfüllung seiner Dienstpflicht beim Reichsarbeitsdienst ganz zu entziehen. Er wird deshalb wegen Verbrechens gegen die Wehrkraftschutzverordnung und gegen die Verordnung zum Schutze des Reichsarbeitsdienstes zu 18 (achtzehn) Monaten Jugendgefängnis verurteilt" (Jugendkammer des Landesgerichtes Klagenfurt, 22.9.1944: Hauptverhandlung und Urteil: Franz Wohlfahrt.

Quelle: Kärntner Landesarchiv, Klagenfurt). Franz starb einige Jahre nach seiner Befreiung an Krebs (vgl. Wölbitsch 2000, 123). Die Tochter Maria (25.3.1926) kam am 8.2.1945 bis Kriegsende in ein Erziehungsheim in Unterkärnten. Als sie dort beim Obstpflücken vom Baum fiel, zog sie sich einen gebrochenen Wirbel zu. Ein paar Monate später starb sie an den Folgen dieses Unfalls (Malle 2011, 140f.).

Abschließend möchte ich noch den Fokus auf die Bibelforscherkinder richten. Der Bericht von Anna Stocker (geb. Wohlfahrt) zeigt wie gnadenlos das Regime auch gegen Kinder vorging:

Anna (geb. 25.8.1926) wurde in die NSV-Jugendstätte Harbach nach Klagenfurt eingewiesen. Danach musste sie an verschiedenen Stellen Arbeitsdienst leisten. Ihre letzte Zuteilung war in einem KLV-Heim in Pörtschach. Anna erinnert sich an ihre Kindheit wie folgt: "Meine Eltern lernten die Wahrheit im Jahr 1929 kennen, als ich noch im Kinderwagen lag. Wir waren eine glückliche Familie. Ich und meine fünf Geschwister wurden liebevoll in der Wahrheit erzogen. Das Jahr 1938 werde ich nie in meinem Leben vergessen können, über Nacht kam die schreckliche Hitlerherrschaft. Die Versammlungen wurden heimlich in der Nacht abgehalten. Ab und zu durften wir Schulkinder auch dabei sein. Beim Studium wurde ein mit Schreibmaschine abgetippter Wachtturm verwendet, der dann auch weitergegeben wurde." Die nationalsozialistische Terrorherrschaft beschreibt Anna wie folgt: "Natürlich war die Gestapo sehr scharf darauf, Literatur zu finden. Sie tauchten zu jeder Tages- und Nachtzeit auf. Vom Backofen bis zum Heuboden wurde alles mit langen Eisenstangen, darauf befanden sich Widerhaken, durchsucht. Glücklicherweise wurde nie etwas gefunden. Mein Bruder Gregor war sehr erfinderisch. Nach dem Wachtturmstudium wurde der Wachtturm sofort in ein Holzscheit versteckt, das mit Scharnieren ausgestattet war, so dass es aufgeklappt werden konnte. Dann wurde es zur Holz-Ecke gelegt und war dort für die Gestapo fast unauffindbar. Bibeln wurden uns aber sehr viele weggenommen. Darunter waren auch einige sehr wertvolle Exemplare. Eines Tages kam dann Post, dass meine Brüder Willi und Kristian abgeholt werden würden und in ein Heim in Deutschland (Landau) kämen, da sie die Schule abgeschlossen hätten. Die Trennung war sehr schmerzlich und sie kann mit Worten kaum wiedergegeben werden. Jetzt war nur noch ich bei meiner lieben Mutter, aber wir wussten, dass dieser Zustand nicht sehr lange dauern würde. Es kam dann tatsächlich eine Karte, dass ich mich auf einem Nazigutshof zu melden hätte. So gab es wieder Abschied, viele Tränen und Herzeleid. Von acht Familienmitgliedern blieb meine liebe Mutter allein zurück. Diese Trennung war für alle sehr, sehr hart und traurig. Es blieb uns nur noch das Gebet zu Jehova und seine Hilfe die er uns gab, um all diese Dinge ertragen zu können. Ich war 15 Jahre alt, als ich auf dem Gutshof ankam, wo ich aber nicht sehr lange bleiben sollte. Die Frau die mich dort in Empfang nahm, war ein sehr liebevoller und verständiger Mensch. Sie schrieb deshalb an die Reichsstatthalterei, wer sie sei, und dass sie es nicht verantworten könne, was hier geschieht. Dass ich von zu Hause weggebracht wurde und vor Heimweh fast zugrunde ging und aus diesem Grunde schickte sie mich zu meiner Mutter zurück. Die Freude wieder daheim zu sein war groß, aber sie sollte nur von kurzer Dauer sein. Ich traf wieder einige Brüder und Verwandte, die mich trösteten, auferbauten und stärkten. Natürlich fanden diese Treffen heimlich und unter großer Gefahr statt, da die Gestapo nur darauf aus war, uns zu ertappen. Wir spürten, dass wir nicht lange zusammen sein konnten, deshalb gab mich meine Mutter zu einer Schulkollegin auf einen Bauernhof, die sich sofort bereit erklärte meiner Mutter zu helfen. Sie verstand allmählich, was die Nazis mit uns Jehovas Zeugen für ein übles Spiel trieben - damit war auch sie nicht einverstanden. So verging eine längere Zeit, bis eines Tages ein Auto vorfuhr und ich einfach verschleppt wurde. Wohin? Ich hatte keine Ahnung. Ich hatte noch schnell Zeit, einen Brief an meine Mutter zu schreiben, den sie aber ohnehin nie erhielt. Das traurige dabei war, dass die Bäuerin so unter Druck gesetzt wurde, dass sie meiner Mutter keine Nachricht zukommen lassen durfte. Meine Mutter wusste sehr lange nicht, wo ich mich befand."

Einige Zeit später erkannte Anna, dass sie in ein nationalsozialistisches Umerziehungsheim, nach Harbach in Klagenfurt, gebracht worden war. "Dass ich in ein Nazi-Heim verschleppt worden war, erkannte ich inzwischen, aber in welcher Gegend ich mich befand, wusste ich nicht. Der Druck war sehr groß und ich vergoss viele Tränen. Trotzdem betete ich immer wieder zu Jehova, dass er mir in dieser Lage beistehen solle. Täglich musste die Fahne gegrüßt werden und der "Hitler-Gruß" war auch Bestandteil der verschiedensten Begegnungen und Zeremonien. Beides tat ich aber nicht. Am Abend wurde Appell abgehalten und die Wochenschau gezeigt. Die Kinder mussten ja auf dem Laufenden gehalten werden, um zu zeigen wie tüchtig Hitler und seine Wehrmacht waren. Ich stand immer im Hintergrund und beteiligte mich nicht. Eine Erzieherin war sehr gehässig und streng. Sie konnte mir aber nichts Schlechtes nachweisen, deshalb begann sie mich nach einiger Zeit sogar freundlich zu behandeln."

Plötzlich sollte Anna in ein anderes Heim für schwer erziehbare Mädchen nach Würzburg in Deutschland überstellt werden. Da es aber schon sehr schwere Bombenangriffe gab, musste die Verlegung in dieses Heim verschoben werden. Die Heimleiterin fragte Anna, ob sie nicht einen einflussreichen Bekannten hätte, der ihr unter diesen Umständen helfen könnte. Daraufhin nahm ein Onkel von Anna, Herr Anton Mittergradnegger Kontakt zu einem entfernten Verwandten namens Nindler auf. Er war ein Oberlehrer in Sörg und nationalsozialistisch orientiert. Anna hatte im Haus dieses Mannes die Möglichkeit zu erzählen, was mit ihrer Familie geschah. Er war sehr bestürzt darüber und musste eingestehen, dass er von solchen Dingen keine Kenntnis hatte. Er und sein Sohn wurden schließlich auch zum Militär eingezogen und erlitten in den letzten Wirren des Krieges den Tod.

Anna wurde dann bei einer Hebamme namens Antonie Wurzer untergebracht und betreute dort kleine Kinder. Die verantwortliche Frau sorgte dafür, dass Annas Mutter erfuhr, wo sich ihre Tochter aufhielt. Anna genoss ihr völliges Vertrauen und konnte am Besuchstag mit ihrer Mutter immer allein zusammen sein.

Im Herbst des Jahres 1944 kam Anna in ein Heim für verschickte Kinder nach Pörtschach am Wörthersee (Gasthof Seerose). Dort arbeitete sie als Küchengehilfin. Da die Mutter keine finanzielle Unterstützung hatte, arbeitete Anna auch nach dem Krieg weiter im Gasthof um sich selbst erhalten zu können. Erst Anfang 1946 war es ihr möglich nach Hause zurückzukehren. Am 21.8.1948 heiratete sie Gottfried Stocker (vgl. Erinnerungsbericht von Anna Stocker 1998 in "Ich bliebe fest").

Literaturliste

  • Besier, Gerhard und Stoklosa, Katarzyna (Hgg.). Berlin 2018.
  • Gsell, Heidi u.a.: Ich bleibe fest. Jehovas Zeugen in Techelsberg am Wörthersee während des Nationalsozialismus. Klagenfurt 2017.
  • Haderlap, Maja: Engel des Vergessens. Göttingen 2011.
  • Jobst, Vinzenz: Anton Uran: verfolgt – vergessen – hingerichtet. Klagenfurt 1997.
  • Malle, Gerti: "Für alles bin ich stark durch den, der mir Kraft verleiht" Widerstand und Verfolgung der Zeugen Jehovas in der Zeit des Nationalsozialismus in Kärnten. Klagenfurt- Wien 2011.
  • Wiesel, Elie: Erinnerung als Gegenwart: Elie Wiesel in Loccum. Evangelische Akademie Loccum 1988.
  • Wölbitsch, Lieselotte: In tiefer Nacht beginnt der Morgen. Franz Wohlfahrt überlebt den NSTerror. Klagenfurt 2000.
  • Wontor-Cichy, Teresa: Für den Glauben in Haft. Zeugen Jehovas im KL Auschwitz. Oświęcim 2006.

Onlinequellen

Autorin: Dr.in Gerti Malle
Kontakt: gerti.malle@gmail.com
Klagenfurt am Wörthersee, 21. Februar 2021